Grenzüberschreitende Alltagspraktiken

 

Christian Wille

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Gegenstand dieses Beitrags sind Alltagspraktiken, die von den Einwohnern des Saarlandes, Lothringens, Luxemburgs, von Rheinland-Pfalz und Wallonien grenzüberschreitend ausgeführt werden. Es werden verschiedene Aspekte von regelmäßig und unhinterfragt stattfindenden Aktivitäten behandelt, die in einem anderen Land als dem Wohnland ausgeführt werden. In diese Betrachtung einzubeziehen ist die Dimension der regelmäßigen transnationalen physischen Mobilität.

Es ist vorauszuschicken, dass in der Großregion SaarLorLux bereits ausgeprägte grenzüberschreitende Mobilitätsphänomene auszumachen sind: Mobilität im Kontext von Erwerbsbeschäftigung (vgl. Wille 2015, 2012; Belkacem/Pigeron-Piroth 2015) und im Kontext von Wohnmigration (vgl. Wille 2014, 2011; Boesen/Schnuer 2015).

Hier wird dagegen auf die mit diesen Mobilitätsphänomenen teilweise im Zusammenhang stehende grenzüberschreitende Mobilität im Rahmen von Alltagspraktiken eingegangen. Dafür leitend ist die Überlegung, dass sich die Großregion SaarLorLux anhand der grenzüberschreitenden Ausführungen von Alltagspraktiken als grenzüberschreitende Lebenswirklichkeit bestimmen lässt. Das bedeutet, die im Folgenden zu rekonstruierende räumliche Organisation von Alltagspraktiken und die daraus resultierenden Mobilitätsströme zwischen den Teilgebieten spiegeln die in der Großregion SaarLorLux vorzufindenden grenzüberschreitenden Lebenswirklichkeiten wider.

Karte: Grenzüberschreitende Alltagspraktiken

Karte: Grenzüberschreitende Alltagspraktiken

Christian Wille, Université du Luxembourg

Die festgestellte Existenz von grenzüberschreitenden Lebenswirklichkeiten soll dabei nicht als ‚gelungene Integration’ eines grenzüberschreitenden Raums gedeutet werden. Vielmehr stehen grenzüberschreitende Lebenswirklichkeiten für soziokulturelle und sozioökonomische Vielfalt, Differenz und Divergenz in der Großregion SaarLorLux, bilden sie doch die Triebkräfte für grenzüberschreitende Praktiken und damit für soziale Raumkonstitutionen.

Zur Umsetzung des skizzierten Programms werden die Ergebnisse aus drei empirischen Studien zusammengetragen, die sich mit alltagskulturellen Fragen der Einwohner der Großregion SaarLorLux unter grenzüberschreitenden Gesichtspunkten auseinandersetzen (vgl. Tab. 1). Es handelt sich um Cavet/Fehlen/Gengler (2006), Scholz (2011, vgl. auch 2015) und Wille/Reckinger/Kmec/Hesse (2014), die als umfassendste grenzüberschreitend angelegte Studien der jüngsten Vergangenheit im Untersuchungsraum gelten können, die Entwicklungen in der Großregion SaarLorLux seit der Jahrtausendwende aufdecken und teilweise ein besonderes Augenmerk auf die Gruppe der Jugendlichen ermöglichen (vgl. auch Scholz 2015).

Tabelle 1: Berücksichtigte Studien im Überblick

Aus diesen Untersuchungen werden Teilergebnisse herausgegriffen, zueinander und mit sozioökonomischen Eckdaten in Beziehung gesetzt, um die räumliche Organisation, die Motive und andere Kontextfaktoren von grenzüberschreitenden Alltagspraktiken in der Großregion SaarLorLux herauszuarbeiten.

Es handelt sich also um eine weitgreifende Bestandsaufnahme von rezenten Untersuchungsergebnissen, die Einblicke geben in die Existenz und Beschaffenheit von grenzüberschreitenden Lebenswirklichkeiten in der Großregion SaarLorLux.

Ausgangspunkt der Betrachtungen ist der Befund von Wille/Reckinger/Kmec/Hesse (2014), demzufolge drei Viertel (76%) der Einwohner der Großregion SaarLorLux im Kontext von Alltagspraktiken grenzüberschreitend mobil sind, d.h. sie führen regelmäßig Aktivitäten (außer Arbeiten) im benachbarten Ausland aus. Dabei fährt ein Fünftel der Luxemburger Wohnbevölkerung (20%) und der Einwohner der angrenzenden Regionen (18%) heute häufiger „als noch vor ein paar Jahren“ für Alltagsaktivitäten über die Grenze, insbesondere die Einwohner Lothringens, Grenzpendler insgesamt und die befragten Wohnmigranten aus Luxemburg.

Während bei Scholz (2011: 168ff.) der Anteil der befragten Schüler, die schon einmal das benachbarte Ausland aufgesucht haben, bei 60% liegt, ist in dieser Studie keine bemerkenswerte Steigerung der grenzüberschreitenden Mobilität über die Zeit festzustellen; zum Zeitpunkt der Befragungen fahren 15% der Schüler mindestens einmal pro Monat ins benachbarte Ausland.

Bei Cavet/Fehlen/Gengler (2006: 39) ist die Alltagsmobilität deutlich ausgeprägter: Gut die Hälfte gibt an, mindestens einmal monatlich grenzüberschreitend mobil zu sein. Tägliche Grenzquerungen sind hier besonders für Befragte aus Lothringen und Wallonien kennzeichnend, was mit dem hohen Anteil der dort wohnenden Grenzpendler erklärt wird.

Darüber hinaus stellen Cavet/Fehlen/Gengler (2006: 40) und Scholz (2011: 170f.) einen erwartbaren Zusammenhang zwischen Wohnort und grenzüberschreitender Alltagsmobilität fest, der sich in häufigeren Grenzquerungen bei abnehmender Entfernung des Wohnorts zu einer Staatsgrenze äußert.

Grenzpendler spielen eine wichtige Rolle für die grenzüberschreitenden Alltagspraktiken.
Foto: Wille 2009

Für die Großregion SaarLorLux kann demnach bereits eine ausgeprägte und seit der Jahrtausendwende tendenziell gesteigerte grenzüberschreitende Mobilität im Kontext von Alltagspraktiken festgehalten werden sowie der Umstand, dass in Grenznähe wohnende Personen besonders häufig eine Grenze überqueren. Dabei sind die Jugendlichen weniger grenzüberschreitend mobil, was auf den in dieser Gruppe weniger verbreiteten Individualverkehr, aber auch auf die von Erwachsenen abweichenden Alltagspraktiken zurückgeführt werden kann.

Einen weiteren Zugang zu grenzüberschreitenden Lebenswirklichkeiten erlauben Informationen darüber, welche Praktiken von den Bewohnern der Großregion SaarLorLux in den angrenzenden Regionen ausgeführt werden. Aufgrund unterschiedlicher Terminologien und Methodiken sind die berücksichtigten Studien an dieser Stelle zwar nur eingeschränkt vergleichbar, dennoch lässt sich eine Aussage treffen:

Die Konzerthalle Rockhal im luxemburgischen Esch/Alzette wird von Gästen aus der ganzen Großregion besucht
Foto: cc Wuppertaler 2016

Bei den am häufigsten grenzüberschreitend ausgeführten Praktiken im Untersuchungsraum handelt es sich um das Einkaufen für den täglichen Bedarf, das freizeitorientierte Shoppen, um Naherholung/Tourismus, das Besuchen von kulturellen Veranstaltungen sowie um das Besuchen von Freunden und Familienmitgliedern.

Diese Praktiken variieren erwartungsgemäß je nach Teilstichprobe bzw. Studie in ihrer Alltagsrelevanz. So rangiert z. B. bei den von Scholz (2011: 175f.) befragten Jugendlichen das grenzüberschreitende Einkaufen an erster Stelle, gefolgt von touristischen Aktivitäten; in der Studie von Cavet/Fehlen/Gengler (2006: 38) kehrt sich diese Reihenfolge um und die Autoren stellen darüber hinaus fest, dass besonders Frauen und Erwerbstätige im benachbarten Ausland einkaufen.

Solche und weitere Teilaspekte von grenzüberschreitenden Alltagspraktiken werden im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung der luxemburgischen Wohnbevölkerung näher betrachtet, scheint sie doch besonders mobil zu sein.

Quellen


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